
Katharina Rauchensteiner-Stehlik
Franchise Head Rare Diseases
Bei der Geburt von Letizia schien alles in bester Ordnung. Sie entwickelte sich völlig normal, bis sie ungefähr neun Monate alt war: Von da an löste ein viraler Infekt den nächsten ab, die Motorik blieb fast stehen. Ein Arztbesuch nach dem anderen folgte. Doch immer wieder bekamen die Eltern zu hören, dass solche Infekte in diesem Alter normal seien. Ein Bluttest zeigte, dass etwas nicht normal war. Die Analyse einer Gewebeprobe aus einem Muskel schaffte dann die erschütternde Klarheit: Morbus Pompe – eine Ausnahmesituation für die Eltern… Seit der Diagnose mit Morbus Pompe wird Letizia alle 14 Tage infundiert, und sie hat sich sehr gut entwickelt. Heute ist Letizia eine strahlende junge Frau, die ihren Weg geht.

Letizia als junges Mädchen in ihrem Hängesessel
Einer von 800.000 oder einer von 30 Betroffenen in ganz Österreich: Es macht einen großen Unterschied, ob man an einer Volkskrankheit wie Diabetes (rund 800.000 Erkrankte1) oder an einer seltenen Erkrankung wie Morbus Pompe (30 Erkrankte) leidet. Was können die Medizin und die Gesellschaft diesbezüglich tun?
In Österreich leben nur etwa 30 Menschen mit der Diagnose Morbus Pompe, einer genetisch bedingten lysosomalen Speichererkrankung, die als sogenannte seltene Erkrankung gilt. Als solche definiert die Europäische Union jene Krankheiten, die maximal fünf von 10.000 Menschen betreffen. Angesichts dieser Zahlen ist es nicht verwunderlich, dass seltene Erkrankungen wenig öffentliches Interesse auf sich ziehen.
Spießrutenlauf für eine Diagnose
Es ist immens wichtig, Awareness für seltene Erkrankungen zu schaffen. Denn die Verbreitung des Wissens darüber ist ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu einer früheren Diagnose. Für Patientinnen und Patienten mit seltenen Krankheiten wird nämlich die Suche nach der treffenden Diagnose häufig zu einem Spießrutenlauf. Darüber hinaus gesellen sich im Laufe der Zeit zu den physischen Beschwerden gerne auch psychische Probleme. Auf der anderen Seite kann es für Ärztinnen und Ärzte schwierig sein, eine seltene Erkrankung überhaupt zu erkennen und zu diagnostizieren, denn das erfordert ein fundiertes Spezialwissen auf dem aktuellen Stand. Dieses kann Ärztinnen und Ärzten nicht abverlangt werden, müssen sie doch bereits mit ihrer Expertise das große Spektrum an breiten Krankheiten abdecken und dieses Wissen ständig aktualisieren. Das bedeutet, dass seltene Krankheiten generell unterdiagnostiziert sind und von einer vergleichsweise hohen Dunkelziffer in dem Bereich auszugehen ist.
Herausforderung für die Forschung
Die Erforschung und Entwicklung innovativer Therapien für seltene Erkrankungen ist eine ganz besondere Herausforderung. Aufgrund der Seltenheit der jeweiligen Krankheit ist ihre Erforschung mit einem hohen unternehmerischen Risiko verbunden. Die gesamten Entwicklungskosten für ein Medikament für seltene Erkrankungen belaufen sich über die Jahre auf einen Milliardenbetrag. Um dieses Risiko abzufedern, sieht die EU mit ihrer Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden, sogenannte Orphan Drugs, eine Marktexklusivität für ebendiese Arzneimittel vor. Diese geht über den üblichen Patentschutz hinaus und sichert dem Medikament einen exklusiven Marktzugang für die Dauer von zehn Jahren, sofern kein anderes Präparat einen therapeutischen Mehrwert verspricht oder Versorgungsengpässe überbrückt. Die Verordnung hat die Entwicklung von Orphan Drugs in Europa bedeutend gefördert. In den vergangenen 20 Jahren hat die EU immerhin mehr als 160 Medikamente für seltene Erkrankungen zugelassen. Derzeit evaluiert die Europäische Kommission die Verordnung. Sollten die Anreize für die pharmazeutische Industrie fallen, würde das einen negativen Einfluss auf die Entwicklung von Präparaten für seltene Erkrankungen haben.
Einheitliches Register für seltene Krankheiten
Nichtsdestotrotz bleibt die Entwicklung von Orphan Drugs eine Herausforderung. Aufgrund der Seltenheit der Erkrankungen spielen Register mit Real World Data eine wesentliche Rolle in der Erforschung der Erkrankungen. Die Praxis ist jedoch weit entfernt von einer optimalen Nutzung von Registerdaten über seltene Erkrankungen: Statt eines zentralen Registers gibt es viele vergleichsweise kleine Register mit wenigen Patientinnen und Patienten.
Die bedeutende Rolle von Patientinnen und Patienten
Als übergeordnete Klammer über all den Erfordernissen für eine frühere Diagnose und Behandlung von Menschen mit seltenen Erkrankungen sei zuletzt noch die intensive Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen, Ärzten, öffentlichen Einrichtungen, Forschung und Patientinnen und Patienten erwähnt. Patientinnen und Patienten nehmen in dieser Zusammenarbeit eine ungleich wichtigere Rolle ein als bei gängigen Krankheiten: Sie sind in der Regel sehr gut informiert und hoch engagiert – oft in Form von Selbsthilfegruppen –, einen Beitrag zur Erforschung und Entwicklung von Therapien zu leisten.
- Österreichische Diabetes Gesellschaft.
Februar 2021. Copyright Portrait: Katharina Schiffl. Copyright Letizia im Hängesessel: Maurice Shourot. MAT-AT-2100218